Matthias Flacius an die evangelischen Kolloquenten in Worms. - Jena, 9. August 1557

[0.1] Christi letztes Gebet [Joh 17] galt der Einigkeit, die auch von Paulus [Rm 15, 5f] gefordert wird.

[0.2] Im Dienste dieser Einigkeit möchte F. den zum Zwecke [interner] Beratungen frühzeitig nach Worms gereisten Adressaten seine Gedanken unterbreiten.

[0.3] Seine Absicht ist lauter. Daß Gott durch die Geringen wirkt, dafür gibt es viele Beispiele seit Luthers Tod. In dieser Zeit voll Gefahren für die Bekenner wurde F. von Gott zum Dienst an der Kirche berufen. Gott bestätigte diese Berufung, indem er viele Interims und deren Urheber vernichtete, als ganz Deutschland dem Papsttum verfiel.

[1.1] Hauptaufgabe der Adressaten ist die Verurteilung des ruchlosen Interims und aller damit verbundenen Zugeständnisse. Seine Spuren finden sich noch in Brandenburg und bei Fürsten und Machthabern, die nach Reichen, Bistümern und Abteien streben. In der Zeit der Verfolgung verleitet es dazu, zwei Herren zu dienen, Christus und dem Antichrist oder Mohammed.

[1.2] Die Schäden des Interims und der Adiaphora für die Kirche und für Deutschland sind: Vernichtung von Kirchengemeinden, fast vollständiges Verschwinden der wahren Religion wie in England, Streitigkeiten, Skandale, Gewissensnot, Epikureismus, Zorn Gottes.

[1.3] Das neue Tier mit den zwei Hörnern Apk 13 [V. 11] ist ein Hinweis auf das Interim mit seinen zwei Zugeständnissen, sc. der Kommunion [unter beider Gestalt] und der Priesterehe. Im ersten Tier [Apk 13, 1-10] sind die Folgen des Interims, sein Schirmherr, der Kaiser, und seine Dauer von Mitte 1548 bis Ende 1551 vorgebildet.

[1.4] Die Verurteilung ist wegen des bevorstehenden Gesprächs mit den Anhängern des Antichrists dringend, denn [Julius] Pflug beruft sich auf die ihm von hervorragenden Gelehrten [in Pegau, ⇨ 5264ff] mündlich gemachten Zugeständnisse, die von den Kff. [Joachim II.] von Brandenburg und [Moritz] von Sachsen in Jüterbog [⇨ 5372] und vom Leipziger Interim [⇨ 5387] bekräftigt und dem Kaiser gemeldet worden seien. Auch [Michael Helding] u. a. prahlen damit. Ohne diese Verurteilung kann es nur einen Sieg der Gegner oder Streit untereinander oder beides geben. Die Gefährlichkeit adiaphoristischer Zugeständnisse hat [M.] auf dem Regensburger Reichstag 1541 durch ein Gedicht ausgedrückt [⇨ 2739.1].

[2] Ferner sind die Sakramentarier, die Schwenckfeldianer und die Osiandristen, die in diesem Jahr schon vier Schriften veröffentlicht haben, zu verurteilen.

[3] Drittens ist der Majorismus zu beseitigen, zumal die Notwendigkeit der Werke zur Seligkeit bereits von Luther, der Wittenberger Universität u. a. abgelehnt wurde.

[4.1] Viertens müssen die Gelehrten im Kampf gegen die Irrtümer zusammenwirken.

[4.2] Dazu bedarf es einer bestimmten Methode. Entstehenden Irrtümern sollen alle Kirchen ihr Bekenntnis entgegensetzen.

[5.1] Fünftens ist eine Zensur der Bücher einzuführen.

[5.2] Die Zahl der Postillen, Katechismen und Lehrbücher ist zu beschränken.

[5.3] [Pietro Paolo] Vergerio schrieb neulich an F., es gehe das Gerücht, F. habe eine „Germanica theologia“ ins Deutsche übersetzt, was nicht stimmt. Von [Nikolaus] Gallus wurde vor drei Jahren ähnlich Falsches behauptet. Nach dem Tod des [Michael] Servet erschien ein Buch gegen die Todesstrafe für Ketzer mit dem fingierten Erscheinungsort Magdeburg. Ungestraft sind die Bücher des [Guillaume] Postel im Umlauf.

[6.1] Sechstens sind für Ketzer zumindest Kirchenstrafen notwendig. Gegenwärtig gehen Osiandristen und andere straffrei aus.

[6.2] Adiaphora wurden schon zu Beginn der Reformation erörtert, wie aus Luthers Brief an [Johannes] Reuchlin hervorgeht [der einzig bekannte vom 14. 12. 1518 (WAB 1, 268f) enthält nichts über Adiaphora], sodann auf den Reichstagen in Augsburg — ebenfalls aus Luthers Briefen [⇨ 5673.3] ersichtlich — und in Regensburg 1540/41. Luther verwarf sie. Nach der Zeit Luthers und Kf. [Johann Friedrichs von Sachsen] wurden sie wieder hervorgeholt. Mit Kirchenzucht und Zensur wäre dies nicht geschehen.

[6.3] Jetzt herrschen in der Kirche die Adiaphoristen und verhindern eine Verurteilung.

[6.4] Die Kirche Christi ist weitgehend verderbt.

[6.5] Die Adressaten sind aufgerufen, sie zu reinigen

[6.6] und die Urheber der Verderbnis zu entmachten.

[7] Siebtens sollten die Entscheidungen einer Kirche, namentlich die Exkommunikationen, für alle gelten. Dagegen wurden in der Nachbarschaft Gebannte ohne Anhörung ihrer Gemeinden rehabilitiert.

[8] Achtens sollten Superintendenten und Gelehrte ihre Kompetenzen nicht überschreiten. Dies taten die Adiaphoristen in Sachsen und anderswo, indem sie standhafte Pfarrer absetzten.

[9.1] Letztens: Angesichts der Bedrohung Deutschlands durch türkische und französische Waffen ist es Aufgabe der Adressaten, Wege zur Vermeidung des Zornes Gottes zu zeigen.

[9.2] Die schlimmsten Feinde der Kirche sind die Irrlehrer, an der Spitze der Antichrist und seine Pseudobischöfe,

[9.3] sodann die Sünden, voran der Abfall von der wahren Religion und die Hinwendung zum Papst von Rom, wie in den vergangenen Jahren in ganz Deutschland geschehen,

[9.4] schließlich der Zorn Gottes und die Teufel.

[9.5] F. erinnert die Adressaten an ihre Verantwortung für das Volk Gottes und warnt vor Hochmut.

[9.6] Robertus Gallus [=  Robert von Uzès] hat bereits vor 250 Jahren die Religionsverderbnis und als Strafe dafür die Herrschaft der Türken in Westeuropa vorausgesagt.

[10.1] Zu dieser freimütigen Rede wurde F. durch sein Gewissen getrieben, aber auch durch die Geschichte der hussitischen Gemeinden: Bald nach dem Tod des [Johannes] Hus näherte sich die Prager Universität und Gemeinde unter Führung des [Johannes] Rokycana dem Papst an, während die Stadt Tabor die Irrtümer ablehnte. Es kam zu Streit und Schisma. Das Bekenntnis der Taboriten enthält schon fast alle jetzt aktuellen Streitpunkte. Auf dem Basler Konzil unterwarfen sich die Prager den Papisten, die ihre Zugeständnisse nicht hielten, wie selbst [Enea] Silvio [Piccolomini] zugibt.

[10.2] Seit Luthers Tod ist die [deutsche evangelische] Kirche und Religion in derselben Gefahr des Untergangs.

[11.1] Die interimistischen, adiaphoristischen, majoristischen und anderen Irrtümer müssen auch durch ihre einstigen Patrone verurteilt werden, und ganz Deutschland muß Buße tun. Dafür sind die Adressaten verantwortlich.

[11.2] Die zu Luthers Zeit herrschende Eintracht der Kirche darf nicht durch Kompromisse mit dem Antichrist zerstört werden.

[11.3] Man muß zur Eintracht zurückkehren und darf die Bußprediger nicht länger verfolgen.

[11.4] Die Schmähschriften der Wittenberger müssen unterbleiben, wie die zwei Bilder von Eseln, die Philomela [CR 20, 776f Nr. 5], die Polemiken des [Willibald] Ramsbeck [⇨ 7264], die „Vogelsynode“ [⇨ 8091.3].

[11.5] Gott möge zur Eintracht, wie sie zu Luthers Zeiten bestand, zurückführen.

[12] Segenswunsch.

Fundort:
CR 9, 199-213 Nr. 6301 aus der auch heute noch einzigen bekannten Handschrift: Wolfenbüttel HAB, Cod. Guelf. 7.9 Aug. 2o, f. 374r-383v. Die falschen Lesungen des CR sind wie folgt zu berichtigen; mitgeteilt werden auch die Fehler der Abschrift, die z. T. vom CR stillschweigend berichtigt wurden. 199 Z. 21 v. u.: confiteamur; Z. 15 v. u.: Hs. falsch unitati; Z. 7 v. u.: vestro; Z. 6 v. u. unicum: uniri; 200 Z. 5: saepe ea; Z. 13: Konjektur des CR zu streichen; Z. 18: beneficiaque; Z. 21f: confitentium; Z. 25 Quare: Quam; Z. 31f: Hs. falsch vere; Z. 40: letifero; 201 Z. 12f ad aschala tragavit utraque: makkaronisch für: er trug auf beiden Achseln; Z. 18: Hs. falsch religionem; Z. 26: Hs. falsch multum multum; Z. 36: defectionum; persecutionem: cj. persecutionum; Z. 37: effectarum; 202 Z. 2 habens: habetis; Z. 13 tales: datos; Z. 33 cj. obtinere poteritis contra; Z. 37: Juterbachi; 203 Z. 13: adiaphoricae; Z. 15 meminisse: me iussere; Z. 18 obsistunt: resistunt; Z. 28 secum: secumque; Z. 37 ex: et; Z. 39 sis: sic; 204 Z. 22 illud: aliud; Z. 34 sementem: cj. segetem; Z. 37 et: ac; Z. 38 necessitati: Hs. falsch necessitate; Z. 48 edita: Hs. falsch edicta; 205 Z. 4 v. u.: Hs. falsch imitantur; 206 Z. 5f: sed semper acriter; Z. 36f quodam: quidem; Z. 47 et: ac; 207 Z. 6 superasse: superesse; Z. 15 unicam: micam; Z. 26 legavit: ligavit; Z. 44 pastores: doctores; 208 Z. 11: Turcica et Gallica; Z. 36 his: hisce; Z. 47: vocem vestram; Z. 49 deteriora: teteriora; cj. tetriora; 209 Z. 15 doctissimus: doctissimusque; Z. 21 ac: et; Z. 27: Europae partes; Z. 39: exilio nos: nos exitio; Anm. * zu streichen; 210 Z. 5f Kokenzana: falsch für [Johannes] Rokycana Z. 29 Basileensi: Basiliensi; Z. 48 iura: cura; 211 Z. 7 inostense: inoffense; Z. 13 gratia: gloriae; Z. 15f sumus: simus; Z. 43 domata: dogmata; eius: Hs. falsch esse; 212 Z. 28 investivae: invectivae.
Datierung:
Adressaten erkannt von Wolf S. 81f, bes. 82 Anm. 1. Erwähnt als „communes litteras“ von F. an Erhard Schnepf, 20. 8. 1557: CR 9, 232f Nr. 6313, als „inscriptas ad omnes collocutores adiunctos supernumerarios nostrae partis“ von Paul Eber an Georg Maior, 1. 9. 1557: CR 9, 248-250 Nr. 6324. Eber berichtet, daß der Brief des F. zuerst den Pfälzern zugestellt wurde, die ihn ungeöffnet an die Württemberger, Hessen und Straßburger weitergaben; diese reichten ihn an die Pfälzer zurück, wo er am 1. September noch ungeöffnet lag. Ähnlich Caspar Peucer an Sebastian Dietrich, 1. 9. 1557: CR 9, 253 Nr. 6327. Am 2. Oktober kannte Jakob Runge den Inhalt noch nicht: Greifswald (wie 8332), f. 27r.

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