M. an NN [Melchior Junius? in Wittenberg?]. - [Torgau, Mitte November 1552]

[1] Auf die neulich vorgelegte Frage, ob Christus auch in seiner Gottheit litt und starb, antwortet M.: Die ganze Kirche glaubt, daß der dem Vater wesensgleiche Sohn Gottes wahrhaft empfangen, geboren, gestorben und begraben sei, und dies nicht nur in seiner menschlichen Natur, sondern als wahrer Gott für uns gelitten habe.

[2] Zwar ist ‚sterben‛ der Natur Gottes fremd, doch sind Gott und Mensch in der Person Christus so verbunden, daß die beiden Naturen ihre Eigenschaften sich wechselseitig mitteilen.

[3] Schriftzeugnisse.

[4] Diese communicatio idiomatum gilt für alle Eigenschaften. Schriftzeugnisse.

[5] Demnach wird alles der menschlichen Natur Eigentümliche auch der göttlichen Natur mitgeteilt und von ihr ausgesagt. Schriftbeleg.

[6] Umgekehrt werden auch die Eigenschaften der göttlichen Natur in Christus der menschlichen wahrhaft mitgeteilt. Schriftbelege.

[7] Da keine menschliche Vernunft dies verstehen kann, ist es zu glauben, wodurch man Trost erfährt in aller Anfechtung der Sünde und des Todes. Ferner wird man erfahren, wie sehr dadurch das Verständnis der Schrift erhellt wird.

Fundort:
Abschriften: Berlin, St. Marien Kirchenbibliothek, M 38, f. 157r-160v; München SB, clm 940, f. 447v-452r (anonym und mit anderer Einleitung, offenbar als Plagiat verwendet, auch in M.s Text stark variierend). ‒ MBW.T 22 (erstmals publiziert).
Datierung:
Datum: Die M. gestellte Frage war im Stancarus-Streit aktuell; sie betrifft eine Gegenthese des Andreas Musculus, die von Georg Buchholzer bestritten wurde (⇨ 6648.3). 6640 könnte M.s Antwort auf eine diesbezügliche Frage Buchholzers sein. Doch gibt es in ihrem Briefwechsel, der in dieser Zeit offenbar vollständig erhalten ist, keinen Anhaltspunkt, daß Buchholzer die Frage so präzise formulierte oder daß M. ein solches Gutachten beilegte. Vielmehr nahm M. in den Briefen selbst kurz Stellung (6584; 6654.4). Die Beilage an Georg von Anhalt vom 7. Dezember (⇨ 6664.3) war eine „narratio“, was 6640 nicht ist. Die am 5. Dezember (6659.1) erwähnte „Antwort“ dagegen könnte 6640 sein. Schon am 13. November hatte M. etwas verfaßt, das er an Erhard Schnepf zur Beurteilung schicken wollte (⇨ 6637), ähnlich wie später die ganze Stancarus-Schrift (MBW 6909). Vor dem 18. November hielt M. auch Vorlesungen über die christologische Problematik (⇨ 6644; ⇨ 6646), und sein Bedürfnis nach Gesprächen mit kompetenten Theologen war groß (⇨ 6616; ⇨ 6632; ⇨ 6637; ⇨ 6644). Als Datum der Abfassung einer christologischen Abhandlung konnten wir den 8./9. November wahrscheinlich machen (⇨ 6631). Es liegt nahe, alle diese Erwähnungen einer Antwort zur Christologie auf 6640 zu beziehen. Doch ist die in 6631 erwähnte Abhandlung programmwidrig bei einem kurzen Besuch in Wittenberg entstanden, während 6640 die Antwort auf eine „neulich vorgelegte Frage“ ist (§ 1). Der scheinbare Widerspruch ist erklärlich mit der Annahme, daß M. am 8. November in Wittenberg die Anfrage bekam, sie auch alsbald bei Kerzenlicht beantwortete, bevor er sich wieder der vorgenommenen Arbeit an De anima widmete, die christologische Abhandlung aber als unbefriedigend nicht aus der Hand gab, sondern in Torgau weiter darüber nachdachte, auch in der Vorlesung das Thema behandelte, wobei der Wunsch nach Gesprächen besonders stark wurde. So konnte er nach einigen Tagen den schwierigen Text in die endgültige Fassung bringen. Dies dürfte um die Mitte des November gewesen sein. Seine Briefe danach enthalten wohlformulierte Antworten auf die Frage nach dem Sterben der Gottheit (6654.4; 6659.1; 6664.3). — Der Fragesteller und damit Adressat von 6640 könnte ein kurmärkischer Pfarrer sein, nicht Buchholzer (s. o.), aber vielleicht Christoph Lasius (⇨ 6648.4). Nun weist „proposuisti“ eher auf eine persönliche Begegnung als auf einen Brief. M. kann in Wittenberg von einem Märker oder von wem immer besucht worden sein. Dort anwesend war aber allem Anschein nach — „istic“ in 6628.2 kann u. E. nur Wittenberg sein — der Universitätsdozent (seit 18. 7. 1551 Senatsmitglied der Artistenfakultät) Melchior Junius, dem M. am 2. 11. 1552 — kurz vor seiner Wittenbergreise — eine briefliche Auskunft über die Trinitätslehre gegeben hatte (6628). Vermutlich legte Junius, als M. nach Wittenberg kam, ihm die christologische Frage vor, auf die 6640 antwortet.

Normdaten
Personen:

Buchholzer, Georg: http://d-nb.info/gnd/128676566

Georg von Anhalt: http://d-nb.info/gnd/118716891

Junius, Melchior: http://d-nb.info/gnd/136161472

Lasius, Christoph: http://d-nb.info/gnd/119738988

Melanchthon: http://d-nb.info/gnd/118580485

Musculus, Andreas: http://d-nb.info/gnd/118785478

Schnepf, Erhard: http://d-nb.info/gnd/12466833X