M.: Gutachten [für Jakob Andreae und Johannes Brenz in Worms]. - [Worms, nach 22. September 1557]

[1] Endzweck des Leidens Christi ist das ewige Leben des Menschen bei Gott. Dies ist nur durch Teilhabe an Gott möglich und beginnt in diesem Leben durch den Heiligen Geist, der wesensgleich ist mit Gott Vater und Sohn. Der Geist kann uns nur lebendig machen, wenn wir für ihn bereit (habiles) sind, was wegen der Sünde nicht der Fall ist. Wir werden bereit, wenn die Sünde aus den Augen Gottes verschwindet. Dies geschieht durch die Anrechnung (imputatio) des Gehorsams Christi als unsere vollkommene Gerechtigkeit vor Gott.

[2] Wenn also der Mensch durch den Glauben um des Gehorsams Christi willen anrechnungsweise (imputative) gerecht ist, kann er durch Empfang (participatione) des Geistes Christi lebendig gemacht werden. Gleichzeitig (simul) beginnt Gott uns wirklich gerecht zu machen durch Beseitigung des Rests der Sünden, deren Schuld (reatus) schon aufgehoben ist. Durch die angerechnete Gerechtigkeit wird der Mensch zur nachfolgenden (posteriorem) Gerechtigkeit vorbereitet, durch die Gott uns durch die Teilhabe an ihm wirklich lebendig und gerecht zu machen beginnt.

[3] Zweierlei ist Osiander vorzuwerfen: Er bestreitet, daß jene erste [angerechnete] in der Schrift ‚Gerechtigkeit‛ genannt wird. Zweitens bezieht er die Bibelstellen, die von dieser angerechneten handeln, auf die nachfolgende. Eintracht könnte hergestellt werden, wenn die Teilhabe an der wesenhaften (essentialis) Gerechtigkeit als Wiedergeburt verstanden wird, wenn die Worte des Paulus in ihrem Sinn belassen werden, und wenn das Ganze in christlicher Liebe geschieht.

Fundort:
Abschrift: Basel UB, Ki. Ar. 22a, f. 312r-v Nr. 46.
Datierung:
Datum: Die einzige bekannte Überlieferung wurde von einem Unbekannten nach eigener Angabe aus Jakob Andreaes Handschrift im Juni 1572 in Heidelberg abgeschrieben. Persönlich begegnet sind sich M. und Andreae nur beim Wormser Religionsgespräch 1557. Seit der ersten Zusammenkunft der Evangelischen am 5. September (⇨ 8328) verlangten die Jenenser Gesandten die namentliche Verurteilung der Irrlehren. Die daraufhin von Jakob Runge verfaßten Artikel (bei ⇨ 8362) vermeiden die namentliche Nennung Osianders. In seinem Diskussionsbeitrag am 9. September (8332) verlangte M. Rücksichtnahme auf die Wünsche der Württemberger bezüglich Osianders. Damals kam es zu einem heftigen Wortwechsel zwischen Schnepf und Brenz in dieser Sache, worüber Victorin Strigel (wie bei 8332) berichtet (Wolf S. 339f). Aber erst am 22. September (⇨ 8362) wurde von den evangelischen Kolloquenten eine von M. verfaßte Erklärung (8360) beraten, die dem Wunsch der Jenenser nach namentlicher Verurteilung der Irrlehren, nun auch Osianders, entsprach. Dies war ein letzter, aber vergeblicher Versuch, die Spaltung der Evangelischen zu verhindern. Dabei widersetzten sich Brenz und besonders energisch Andreae der Verurteilung Osianders (⇨ 8369.2). Vermutlich hat M. danach durch 8363 den württembergischen Kollegen seine Vorbehalte gegen Osianders Rechtfertigungslehre erläutert, vielleicht sogar auf Ersuchen Andreaes. Zeit genug hatte er, denn die nächste Sitzung fand erst am 6. Oktober statt (bei ⇨ 8382).

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