M.: Denkschrift an den kaiserlichen Prediger [Aegidius in Augsburg]. - [Augsburg, nach 1. Juli] 1530

[0] Obwohl der Glaube notwendig die Liebe hervorbringt, sagen die [Evangelischen], daß der Glaube rechtfertigt, nicht die Liebe, aus den folgenden drei Gründen:

[1] Nur diese Redeweise sieht ab von jeder eigenen Gerechtigkeit und bezieht sich auf das Verdienst Christi; durch die vom Gesetz geforderte und unvollkommene Liebe würden die Gewissen nicht getröstet.

[2] Nur diese Redeweise beschreibt, wie die Rechtfertigung geschieht, nämlich durch das Wort, worüber die Scholastiker nichts sagen.

[2.1] Aus diesen beiden Gründen besteht Paulus auf der Redeweise: Der Glaube rechtfertigt. Die Art der Rechtfertigung drücken die [Evangelischen] so aus: Das Evangelium predigt Buße und Vergebung der Sünden.

[2.2] Das Evangelium erzeugt durch Anklage der Sünden Schrecken bzw. Reue und bringt zugleich durch Hinweis auf das Verdienst Christi und die Sündenvergebung Trost. Nur ersteres erörtern die Sentenzenkommentare.

[2.3] Im Interesse der Ungebildeten bevorzugt M. für diese Lehre die Bezeichnung „Lehre von der Buße“ und verurteilt neue, unklare Begriffe.

[3] Die Redeweise: Der Glaube rechtfertigt, ist leicht verständlich im Gegensatz zu der Aussage: Die Liebe rechtfertigt.

Fundort:
Abschrift: Nürnberg StB, Strob. Ms. 34, f. 284r-285r; H. Scheible, Melanchthons Auseinandersetzung mit dem Reformkatholizismus: Vermittlungsversuche auf dem Augsburger Reichstag 1530, hrsg. v. Rolf Decot (1989), 88f; auch in: H. Scheible, Melanchthon und die Reformation (1996), 242f. ‒ MBW.T 4.
Datierung:
Adressat und Datum: Der kaiserliche Prediger, nämlich der Franziskaner Aegidius (Gil Lopéz de Bejar), ist in M.s Schreiben an diesen (1081) mit Namen genannt. Mit ihm traf sich M. auf dem Augsburger Reichstag, wie Justus Jonas und der Crailsheimer Pfarrer Adam Weiß bezeugen (WAB 5, 449 Z. 13f und 496f Anm. 13). Letzter nennt als Datum der Zusammenkunft den 1. Juli und als Thema der Unterredung die Rechtfertigungslehre. M. habe seinen Gesprächspartner so begeistert, daß dieser ihn bat, am nächsten Tag wiederzukommen. Ob diese zweite Begegnung stattgefunden hat, ist nicht festzustellen. Jedenfalls dürfte 950a in diesem Zusammenhang kurz nach dem 1. Juli 1530 entstanden sein.

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