M.: Gutachten [für Eb. Hermann von Köln]. - [Wittenberg, Dezember 1544]

Über die [»Gegenberichtung«] des Kölner Domkapitels [⇨ 3422; Johannes Gropper, Briefwechsel, hrsg. v. R. Braunisch, 1 (1977), 332f Anm. 2].

[0.1] Sie verteidigt alle Mißbräuche und greift die »Kölner Reformation« [⇨ 3239.1] an.

[0.2] Also muß [Eb. Hermann von Köln] die nötigen Reformen durchführen.

[0.3] M. will zur Urteilsbildung verhelfen.

[1] Die Verbindlichkeit der kirchlichen Traditionen.

[1.1] Wenn sie der Bibel widersprechen, sind sie ebenso wie der Koran abzulehnen, denn die Kirche ist ausschließlich an die Schriften der Propheten und Apostel gebunden. Dies gilt für Fegefeuer-Ablässe, Verdienstlichkeit der Messen, insbesondere ex opere operato, Zölibat, Heiligenanrufung, Gesetzeserfüllung, Zweifel an der Vergebung, Bewertung der Konkupiszenz usw.

[1.2] Die Konzile mit ihrer Trinitätslehre und die Lehrtradition (Polykarp, Irenaeus, Basilius) werden als Auslegung des Evangeliums angenommen.

[1.3] Die Irrtümer der Kölner haben keine Zeugnisse der reinen Alten Kirche, denn bis etwa 300 gab es nur Messen mit Kommunikanten, Transsubstantiation und Fronleichnam sind jung, der Bilderkult wurde abgelehnt. Die wenigen alten Beispiele von Privatmessen und Heiligenanrufung sind Samen des Teufels.

[1.4] Wie das Salve Regina von den Kölnern interpretiert wird, kann man auch die heidnischen Kulte verteidigen. Sokrates, Platon, Cicero, Xenophon, Cato verehrten Gott, doch nicht wie er sich offenbart hat, und von der Vergebung wußten sie nichts.

[2] Daß Änderungen nur nach der Entscheidung des Papstes oder eines Konzils durchgeführt werden dürfen, läßt M. nur bei Adiaphora gelten. Bei Glaubensartikeln haben die Apostel, Propheten, Augustin (gegen Pelagianismus und Philosophie des Origenes) nicht auf die Instanzen gewartet; hier muß notfalls einer gegen alle stehen. Auch will das Kölner Kapitel damit nur Zeit gewinnen und hält sich nicht einmal selbst an diesen Grundsatz, denn die Rechtfertigungslehre der »Gegenberichtung« entspricht nicht mehr der römischen Fassung, sondern ist der [reformatorischen] angeglichen.

[3] Auf die Einzelkritik an der »Kölner Reformation« antwortet M. nur kurz

[3.1] über Buße und Vergebung als Summe der Lehre, über Gebet,

[3.2] Sünde in den Wiedergeborenen, Manichäismus,

[3.3] Taufe und Almosen als Heilswege (Cyprian).

[4] Rechtfertigung. Zu Unrecht wird das Fehlen der Wiedergeburt und des Vertrauens eines guten Gewissens behauptet. M. sieht dennoch eine Übereinstimmung, da die Kölner die Imputation übernommen haben, dies freilich an anderen Stellen nicht durchhalten.

[5] Abendmahl.

[5.1] M. verurteilt nicht die unter einer Gestalt kommunizieren, sondern die den Kelch verbieten.

[5.2] Die Transsubstantiationslehre wird durch Irenaeus und Epiphanios als jung erwiesen.

[5.3] Hostienaufbewahrung und - prozessionen sind Abgötterei, denn Christus hat sich nicht an das Brot außerhalb der Handlung gebunden.

[6] Meßopfer.

[6.1] Das verdienstliche Opfer des Priesters für Lebende und Tote versuchen die Kölner vergeblich zu beweisen,

[6.2] desgleichen das „ex opere operato“ (Mißstände in Köln, Paris, Rom, Venedig).

[6.3] Das vermißte Wandlungsgebet lehnt M. ab.

[7] Zur Heiligenanrufung verweist M. auf Bucers Buch.

[8] Beichte. Die Schlüsselgewalt der Kirche erstreckt sich nur auf öffentliche Sünden; die vom Kölner Kapitel geforderte Erforschung heimlicher lehnt M. ab.

[9] Keine Verständigung über Gelübde und Zölibat.

[10] Gebet.

Fundort:
M. Bucer, Constans defensio (1613), 473-482 [H 776]. ‒ MBW.T 13.
Datierung:
Datum: In § 7 verweist M. auf ein Buch Bucers, worin die Argumente der »Gegenberichtung« für den Heiligenkult widerlegt werden. Nach dem Kontext ist dies auf die »Bestendige Verantwortung« (vgl. R. Stupperich, Bibliographia Bucerana, 1952, S. 59f Nr. 86; Th. Schlüter, Die Publizistik um den Reformationsversuch des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied aus den Jahren 1542-1547, Phil. Diss. Bonn 1957, S. 206f Nr. 66) zu beziehen, mit deren lateinischer Fassung »Constans defensio« M.s Parallelgutachten 3775 ja später auch publiziert wurde, und zwar aus M.s Autograph, das sich im Bucer-Nachlaß in Cambridge befindet (vgl. J. Rott, Le sort des papiers et de la bibliothèque de Bucer en Angleterre: Revue d'Histoire et de Philosophie religieuses 46, 1966, 346-367, bes. 356 Anm. 50). Die »Bestendige Verantwortung«, worin der Heiligenkult auf Bl. 74a-91a behandelt wird, erschien 1545 in Bonn, nach Schlüters Vermutung (l. c. S. 94) schon im Januar, war allerdings Ende Januar noch nicht in Bucers Händen laut Bucer an Albert Hardenberg, 28. 1. 1545: „fac ut refutatio brevi excudatur“ (C. Varrentrapp, Hermann von Wied, 1878, 247 Anm. 2). Nun behandelt aber Bucer den Heiligenkult auch in früheren Schriften (vgl. M. Köhn, Martin Bucers Entwurf einer Reformation des Erzstiftes Köln, 1967, S. 110 Anm. 2), zuletzt in der »Responsio altera et solida ad Bartholomaeum Latomum« vom 20. März 1544 (vgl. L. Keil: Corpus Catholicorum 8, 1922, S. XIV und XXI Ausgabe B). 3775.7 könnte sich also auch hierauf beziehen. Sicher ist nur, daß M. am 1. 1. 1544 eine ausführliche Widerlegung der »Gegenberichtung« für unnötig hielt (⇨ 3422), 3775 also danach niederschrieb, vielleicht erst 1545. Nun war Peter Medmann im Dezember 1544 als Gesandter des Eb. Hermann von Köln in beiden Sachsen und Brandenburg, um Unterstützung gegen das Kölner Domkapitel zu suchen (⇨ 3760; ⇨ 3768.5). Es ist zu vermuten, daß er dabei M. nun doch zu einer Stellungnahme zur »Gegenberichtung« veranlaßt hat. Dabei könnte sich § 7 sogar auf Bucers »Bestendige Verantwortung« beziehen, von der Medmann berichtet haben könnte. — Für unverzügliche Auskünfte danke ich Marijn de Kroon (Münster) und Jean Rott (Straßburg).

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